"Aus der Knospe der Verwirrung wächst die Blüte der Verwunderung." Matthias Varga von Kibéd
Bei einer Aufstellung stellt eine Person ihr internes Bild zu - ihrer Familie, ihres Teams, ihrer Organisation, „innerer Anteile“ - auf. Die Person wählt für ihr Anliegen, aus einer Gruppe von TeilnehmerInnen, RepräsentantInnen aus, sowohl für sich selbst (Fokus) als auch für andere relevante Systemmitglieder und stellt diese achtsam im Raum auf. Die Repräsentanten werden immer aus der Perspektive derjenigen Person gestellt, die ihr Anliegen einbringt. Um dies Sicht hervorzuheben wird ihre Repäsentantin als „Fokus“ bezeichnet. Würde ein anderes Systemmitglied das Thema aus ihrer Perspektive aufstellen , entspräche das Aufgestellte ihrer Wahrnehmung der Situation.
Die Repräsentanten nehmen die Wirkungen des Platzes wahr an dem sie aufgestellt wurden. Sie können die körperliche Wahrnehmung beispielsweise empfinden als Schauer, Schweißausbruch oder Druck. Sie können Nähe, Ärger, tiefe Trauer wahrnehmen ohne dass sie die Personen kennen, für die sie stehen. Die Repräsentanten zeigen manchmal, ohne es zu wissen, auch Krankheitssymptome von Familienmitgliedern, verwenden typische Aussagen usw. Dieses Phänomen wird als „repräsentierende Wahrnehmung“ (Matthias Varga von Kibéd) bezeichnet.
In Aufstellungen werden Spannungen, Konflikte, Verstrickungen, Überlagerungen, unterdrückte Gefühle und auch Tabus deutlich. Die Repräsentanten sprechen sie aus, signalisieren sie durch Körperhaltung, Blickrichtung usw. Um dieses anfangs irritierende und überraschende Phänomen nachvollziehen zu können, ist es empfehlenswert, die Aufstellungsarbeit selbst beobachtend und teilnehmend zu erfahren.
Nach dem alle aufgestellten Repräsentanten ihre Wahrnehmung mitgeteilt haben, stellt der die Aufstellung Leitende die Repräsentanten um. Die Umstellungen orientieren sich daran, für die Beteiligten eine Konstellation zu finden, in der möglichst alle Systemmitglieder und vor allem der Fokus, einen kraftvollen und freien Platz einnehmen kann. Der Aufstellungsleitende kann dabei bestimmte Prinzipien (so genannte „kurativen Prinzipien“) anbieten und hypothetisch überprüfen. Dabei lässt er sich immer von den Rückmeldungen der Wahrnehmung der Repräsentanten leiten, da erst die Wirkung auf die Aufgestellten entscheidet, ob die angebotenen Veränderungen fruchtbar sind. Das so genannte „Lösungsbild“ ist also ein Ausdruck eines Abstimmungsprozesses, der auf der Wahrnehmung von Unterschieden in der Befragung beruht - besser, schlechter, gleich, anders. Die Person selbst kann während des Aufstellungsprozesses oder am Ende seinen Platz (durch den Fokus bislang repräsentiert) einnehmen, um die Aufstellung als neues Bild zu integrieren. Das Ende einer Aufstellung markiert gleichzeitig den Anfang eines neuen Prozesses im Sinne einer Potenziallandschaft oder auch „zukünftigen Aufgabe“.
Oft werden im System abgewertete und ausgeklammerte Personen oder „innere Anteile“ in das Bild einbezogen und ihre Zugehörigkeit bestätigt. Schwere Belastungen im Familiensystem, beispielsweise durch früh gestorbenen, im Kindbett gestorbene Mütter , im Krieg gefallene oder Angehörige, die Suizid begannen haben etc., werden in das System einbezogen indem die betreffende Person in ihrer Belastung gesehen wird . Ebenso wird Schuld beispielsweise für in der Nazizeit begangenen Taten, den Verantwortlichen zugemutet und bei Vermischung der Zuständigkeit den Betreffenden zurückgegeben.
Ritualhalft gesprochene Sätze, können den Prozess verdichten, mit der Idee Verstrickungen zu lösen und Trennendes zu verbinden . „Du gehörst dazu“ kann ein lösender Satz zu einem ausgeschlossenen Familienmitglied sein. „Ich nehme von Dir“ der Satz eines Kindes zu einem Elternteil. Mit „ich trage meinen Teil der Verantwortung“ oder „Ich trage die Folgen“, kann symbolisch die Verantwortung genommen und ein „Kontenausgleich“ hergestellt werden. Oder verkürzt „Du das deine und ich das meine“, um Vermengtes zu trennen und eine Kontextüberlagerung aufzulösen.
Eine andere Form der so genannten Prozessarbeit ist das symbolische Geben und Nehmen über Blickkontakt, eine weitere Form ist das stärkende Erfahren der Generationenkette. So stellt sich zum Beispiel die Repräsentantin der Mutter hinter ihre Tochter, dahinter wird die Großmutter aufgestellt und so weiter. Die Tochter kann die Kraft der weiblichen Linie in sich aufnehmen.
Die Erfahrungen mit Aufstellungen und ihren Wirkungen haben gezeigt, dass solche Prozesse sich dem direkten logischen Erfassen entziehen. Mit dem Unbewussten erfassen Menschen andere Wirklichkeiten als über logisch Erklärbares.
Inhalte der Aufstellungen mit Familiensystemen sind existentielle Vorgänge im menschlichen Leben: Zugehörigkeit oder Ausgeschlossen sein, Gebunden sein oder Verbunden sein, Abwertung und Anerkennung, der Umgang mit schweren Belastungen, Krankheiten usw. In den Systemischen Strukturaufstellungen von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd werden Aufstellungen auch genutzt zur Entscheidungsfindung, bei Dilemmata, zur Lösung von Problemen, für Werte und Wertkonflikte usw.
Systemische Strukturaufstellungen haben das Wiederfinden des Ausgeschlossenen zum Thema. Insa Sparrer schreibt: „Ausgeschlossene, tabuisierte oder vergessene Familienmitglieder bzw. Systemteile bei abstrakten Aufstellungen werden zum von den Klientin aufgestellten System hinzugefügt. Heilung bedeutet hier das Wieder-Ganz-Werden, das Wiederfinden der Verflechtungen, der vollständigeren Beziehungsstruktur.“
In Aufstellungen werden Kontextüberlagerungen sichtbar: Repräsentanten beschreiben Wahrnehmungen, die zu ihrer Situation nicht zu passen scheinen, aber nach der Trennung zweier überlagerter Kontexte sehr wohl passend sind. Was passt zeigt die Wirkung beim Repräsentanten. Loyalitäten können eine Form der Kontextüberlagerung sein, etwa wenn Kinder die Belastung eines Elternteil übernehmen und nicht mehr Kind sein können oder an die Position der verstorbenen Mutter treten und versuchen deren Verantwortung zu tragen. Weitere Beispiele sind die Übernahme von Schuld, Leid eines anderen Familienmitgliedes „Lieber ich als Du“, oder die Loyalität im Leiden „Mir darf es nicht besser gehen als Dir“.
In Aufstellungen wird nach unterstützenden Kräften in Familien- und anderen Systemen gesucht. Eine direkte Möglichkeit ist das Aufstellen von Repräsentanten für eigene Ressourcen oder Kraftquellen, wie Entschiedenheit, Humor, Glaube u.a. Ihre Wirkung unterstützt die Person bei ihrem ausgewählten Thema.
Wichtige Rückmeldungen über die Wirksamkeit des Vorgehens erhält der anleitende Aufsteller sofort bei der Aufstellung. Im Blick, in der Stimmung, im Gefühl und in der Haltung der RepräsentantInnen ist Veränderung sicht- und wahrnehmbar.
Aufstellungen sind keine Handlungsanweisungen, es geht nicht um die exakte Umsetzung des Bildes am Ende einer Aufstellung. Hier liegt eine Quelle von Missverständnissen der Aufstellungsarbeit. Aussagen im Kontext der Aufstellungen sind bewirkend zu verstehen und nicht wertend. Die Deutung und das Umsetzen in praktisches Tun sind in der Verantwortung der Person, die ihr Anliegen eingebracht hat.
In der Literatur über die Aufstellungsarbeit sind Grundannahmen oder Prinzipien beschrieben , die auf der Erfahrung in vielen Aufstellungen beruhen. Gemeint sind kurative (heilende) Prinzipien und keine normativen. Die Existenz eines Systems erfordert die Festlegung seiner Grenzen. Wer gehört dazu, wer nicht? Wo hört der eine Bereich auf, wo beginnt der andere? Ein Prinzip meint die „Gleichwertigkeit der Zugehörigkeit“ aller Mitglieder eines Systems. Die Zugehörigkeit zur Familie ist für jeden Menschen unabdingbar. Familiäre Verstrickungen entstehen oft, wenn eine Person aus dem System ausgeschlossen, abgewertet, nicht gewürdigt wird. Dann identifizieren sich Spätere – meist unbewusst – mit den nicht Gewürdigten, ahmen sie nach, auch verschlüsselt in Symptomen. „Das Prinzip der direkten Zeitfolge“ weist darauf hin, dass die Sicherung des Systemwachstums bedeutsam ist. Für später dazu gekommende, wie jüngere Geschwister oder neue Mitarbeiter, zu beachten, dass die anderen schon länger da sind und deren Leistungen berücksichtigen. Hingegen dazu meint das „Prinzip der inversen Zeitfolge“ das für die Systemfortpflanzung das neue Systeme wie Tochterfirmen Vorrang vor den älteren Systemen haben in der Hinsicht, dass Teilsysteme eine Stärkung der Systemgrenzen brauchen um sich gut entwickeln zu können.
Als häufig beobachtete Erfahrung wird die starke Bindung zwischen Kindern und Eltern beschrieben, unabhängig vom derzeitigen Kontakt und den gegenseitigen Gefühlen. Es scheint beinahe so, als genüge die biologische Mutter- und Vaterschaft, damit diese Bindung entsteht.
Der Ausgleich zwischen Geben und Nehmen in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern folgt der Annahme, dass die Eltern geben und die Kinder nehmen. Die Kinder nehmen ihre Eltern als Eltern. Durch die Eltern hat das Kind sein Leben bekommen, unabhängig von ihren sonstigen menschlichen Eigenschaften. Dieses Geschenk geben die Kindern an ihre Kinder weiter.
Der Begriff „RW“ wird von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sprarrer verwendet. Der Repräsentant in einer Aufstellung nimmt etwas wahr, an seinem Platz, in der Beziehung zu anderen Personen und dem Raum, der entsteht. Dabei geht es um Wahrnehmung und um Unterschiede in der Wahrnehmung und nicht um Gefühle. Die anleitende Aufstellerin fragt: „ Was nimmst du wahr, seitdem du aufgestellt wurdest?“ Oder: „Was ist anders?“ Durch die „RW“ können Repräsentanten, wenn sie als Mitglieder eines Systems aufgestellt werden, Beziehungsqualitäten des gestellten Systems –Familie wie Organisation u.a. wahrnehmen. Repräsentanten beispielsweise von Familienmitgliedern erleben und empfinden Beziehungen ganz ähnlich wie die Angehörigen der eigenen Familie. Test zeigen, dass ausgetauschte Repräsentanten an einem bestimmten Platz in einer Aufstellung ähnliche Wahrnehmungen beschreiben.
Wesentlich für diese Wahrnehmung ist, dass Menschen über sie nur als Mitglied des repräsentierenden Systems verfügen, also so lange wie eine Aufstellung währt. Diese Wahrnehmungsform ist also nicht als persönliche Fähigkeit oder gar Eigenschaft einer einzelnen Person zu verstehen, sondern als eine Qualität, die sich unter geeigneten Bedingungen in einer Person manifestiert. Durch diese besondere Wahrnehmungsform können Menschen selbst zu „Organen eines anderen Systems“ werden.
Systemisch bedeutet, dass wir Phänomene in dem Kontext sehen, in dem sie sich zeigen, sei es in biografischen, kulturspezifischen und geschichtlichen Zusammenhängen. Systemisches Denken und Handeln berücksichtigt die wechselseitigen rekursiven Beeinflussungen und verhaftet nicht in linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. So werden bei Aufstellungen nicht isolierte Personen mit ihren Eigenschaften betrachtet, sondern die Interaktionen im System, die Wechselbeziehungen der Personen, die zusammen ein System bilden. Eine wichtige Frage in Aufstellungen ist beispielsweise: „Wer ist mit wem in welcher Weise in Beziehung?“
Was Aufstellungen zeigen sind als Sinnzusammenhänge zu verstehen. Sie prognostizieren deshalb auch keine Folgen im Sinne von: „Wenn Du das machst, geschieht das...“. Hinzukommt, dass systemisches Vorgehen ressourcen- und lösungsorientiert ist und das Vorhandene achtet. Aufstellungen lassen sich unter dem Aspekt betrachten, welche Unterschiede dort zum Vorhandenen angeregt werden. (Vgl. den berühmten Satz von Gregory Bateson „Mache einen Unterschied, der einen Unterschied macht“.)
Der Leiter/die Leiterin einer Aufstellung arbeiten mit Hypothesen zu den Strukturen des Systems, dass aufgestellt wird. Das aufgestellte „Bild“ mit den Repräsentanten gibt vielfältige Hinweise auf Beziehungsmuster und Themen im System. Die Äußerungen der Repräsentanten fördern dann oft zusätzliche, bestätigende oder völlig neue Informationen zu Tage. Mit dem Umstellen oder mit angebotenen Sätzen, im Einklang mit den Repräsentanten, können Unterscheidungen zum Gewohnten angeregt werden.
Das so genannte Lösungsbild kann nach bei der Person über lange Zeit hinweg kraftvolle verändernde Impulse auslösen. Hilfreich dabei ist, dass sie/ er es sich immer wieder vergegenwärtigt.
Wir verstehen die Rolle von anleitenden Aufstellern nicht als „Wissende“, die eine Wahrheit ans Licht bringen. Matthias Varga von Kibéd hat die Metapher des „guten Gastgebers“ geprägt. Er lädt ein zu einem gemeinsamen Prozess und begleitet ihn achtsam. Dies beginnt mit dem abklärenden Gespräch bzw. dem systemischen Interview. Dazu gehört die Entscheidung, worauf in der Aufstellung der Fokus gerichtet wird und welche Personen/ Repräsentanten für das gewählte Thema von Bedeutung sind. Bei der Auftragsklärung wird auch die Frage nach dem „guten Ergebnis“ gestellt.
Die Aufstellungsarbeit ist in der Regel ein Gruppenverfahren, sie wird aber auch in der Einzelsetting genutzt. Anstelle von Personen werden dort Figuren oder Gegenständen verwendet. Aufstellungsarbeit ist mittlerweile weit verbreitet und wird in unterschiedlichsten Kontexten angewandt:
Für das Gelingen der Aufstellungsarbeit hat die Haltung der AufstellerInnen große Bedeutung. Dazu gehören Absichtslosigkeit und Nichtwissen als Voraussetzung für das Auftauchen von Neuem, Achtung vor dem Vorhandenen, Wahrnehmung der Notwendigkeit des Zusammenwirkens, lösungs- und ressourcenorientiertes Vorgehen sowie die Verbindung mit den Lösungsmöglichkeiten.
Autoren: Kordula Richelshagen und Rainer Lange 2014